Die Freiwirtschaft und die Keimzellen der Zukunft
Rezension von Markus Henning
Seit Beginn der Industrialisierung, also seit knapp 200 Jahren, basiert unsere Wirtschafts- und Lebensweise auf der Verbrennung fossiler Energieträger. Neben allem sonstigen Raubbau an Mensch, Natur und Biodiversität haben die damit einhergehenden CO2-Emissionen den planetaren Kohlenstoffkreislauf in einem bis heute anwachsenden Maß aus seinem dynamischen Gleichgewicht gebracht. Das CO2 als wichtigstes Treibhausgas, seine emissionsbedingte und irreversible Konzentrationserhöhung in der Erdatmosphäre sowie der hieraus resultierende Klimawandel gehören zu denjenigen Forschungsgebieten, welche am regelmäßigsten von internationaler wissenschaftlicher Seite im Auftrag der UN dokumentiert und bewertet werden. Die im Mittel immer rascher zunehmende globale Erwärmung drängt das hochvernetzte System unserer Umwelt schon jetzt an den Rand tiefgreifender Kipp-Punkte und sich selbst verstärkender Kaskaden des Zusammenbruchs. Bei ungebrochener Fortschreibung dieser Entwicklung ist ein Totalkollaps der Biosphäre absehbar, der die Existenzbedingungen der Menschheit insgesamt infrage stellt.
Die nationalstaatlichen Herrschaftssysteme sind offensichtlich nicht in der Lage, eine Selbstkorrektur und ein wirksames Umsteuern in die Wege zu leiten. Zu sehr funktionieren ihre Institutionen nach strukturellen Regeln, die selbst Wurzeln des Problems sind. Die Zeit drängt. Wir brauchen umgehend einen selbstorganisierten Beginn des Wandels. Wir brauchen sozial-ökologische Gegenkulturen, deren Weltverbrauch verträglich ist mit der Regenerationsfähigkeit unserer natürlichen Ressourcen. Und wir brauchen konzeptionelle Diskurse und interdisziplinären Austausch.
Die Freie Akademie e.V. hat diese Herausforderung angenommen und ihre wissenschaftliche Jahrestagung 2022 unter ein Motto gestellt, das aktueller nicht hätte sein können: Nachhaltigkeit – Wie kann sie gelingen?
Vertreter:innen unterschiedlicher Fach- und Wissensgebiete waren eingeladen, ihre Sichtweisen aus Sozialpsychologie, Pädagogik, Klimaforschung, Ökonomie, Verfahrenstechnik und Systemischem Denken einzubringen. In dem von Ute Urban (geb. 1969) herausgegebenen Band 41 der Schriftenreihe der Freien Akademie liegen die Vorträge und Diskussionsergebnisse jetzt gesammelt vor.
Die Lektüre nimmt uns mit auf eine gedankliche Suchbewegung, die programmatische Engführungen hinter sich lässt. Durch das Spektrum der Perspektiven weitet sich der Blick für Größe und Komplexität der Aufgaben. Interessanterweise scheint gerade dadurch in der analytischen Vielfalt ein handlungstheoretischer Konsens auf: Wenn es weder einen monokausalen Hebel noch historische Vorbilder oder eine sonst wie geartete Blaupause gibt, dann lässt sich der zu bewältigende Epochenwechsel sinnvoll nur projektieren als dezentraler Prozess experimentellen Voranschreitens. Er setzt auf kommunale und zivilgesellschaftliche Initiativen, die als soziale Innovationsakteure Räume für kooperatives Engagement öffnen. In ihnen können Menschen erfahren, was es heißt, lebendiger und selbstwirksamer Teil von Gesellschaft und natürlicher Mitwelt zu sein (vgl. den Beitrag von Janina Taigel [geb. 1989] über Konzepte einer „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, S. 55-73).
Durch ein dergestalt emanzipatorisches Veränderungslernen kann die individuelle Daseinsgestaltung – also die Neuausrichtung von Handlungsroutinen, von Rollen-, Tätigkeits- und Konsummustern – selbst zum eigendynamischen Träger von Transformation werden. Seine Potentiale modelliert Thea Stäudel (geb. 1954) mit dem Instrumentarium der Netzwerkanalyse: „Was hier vorliegt, ist eine positive Rückkopplung: je mehr Menschen sich engagieren, desto eher machen andere mit, aus Begeisterung oder aufgrund von sozialem Druck oder aus Neugier oder … Und irgendwann ist eine kritische Masse bzw. ein Kipppunkt erreicht und das Denken der Minderheit wird das Denken der Mehrheit, es wird eine soziale Norm […]. Es entsteht eine neue, klimabewusste Denk- und Verhaltenskultur, die verhaltensleitend sein kann – sofern die Rahmenbedingungen stimmen“ (vgl. den Vortrag von Thea Stäudel, S. 75-103; hier: S. 96. Hervorhebungen im Original).
Einen möglichen Beitrag der Freiwirtschaft für nachhaltige Zukünfte thematisiert Dieter Fauth (geb. 1956). Er folgt den Grundgedanken von Silvio Gesell (1862-1930), arbeitet unter Nachhaltigkeitsaspekten inhaltliche Aktualisierungsbedarfe heraus und betont die Bedeutung praktischer Umsetzungen in regional überschaubaren Dimensionen. Im Zusammenspiel seiner drei Argumentationsebenen zeichnet sich die regulative Idee einer Marktwirtschaft ab, die vom Kapitalismus und seiner zerstörerischen Dynamik befreit ist (vgl. das Referat von Dieter Fauth, S. 33-54):
1) Geldreform und Postwachstum: Eine periodisch anfallende Haltegebühr nimmt dem allgemeinen Tauschmittel seine Wertaufbewahrungsfunktion, verstetigt seinen Umlauf und macht es effektiv mengensteuerbar. In der Folge pendeln marktwirtschaftliche Mechanismen den allgemeinen Zinssatz mittelfristig auf 0% ein, was das zinseszinsbedingte Auseinanderdriften von Reichtum und Armut beendet, den Verwertungsdruck exponentiell wachsender Geldvermögen zurückfährt, die zu erwirtschaftenden Kreditkosten senkt und damit wesentliche strukturelle Treiber für ökonomischen Wachstumszwang und permanent steigenden Energieverbrauch neutralisiert.
2) Entkapitalisierung von Naturressourcen: Zur Einhegung privatwirtschaftlicher Interessen plante Silvio Gesell des Weiteren eine pächtersozialistische Bodenreform, d.h. eine Vergesellschaftung sämtlicher Grundstücke mit anschließender Vergabe im Erbpachtverfahren. „Gemäß der Logik der Freiwirtschaft müsste heute die Nutzung weiterer Ressourcen, die der Mensch vorfindet und nicht selbst geschaffen hat – Bodenschätze, Wälder, Wasser, Meere, Luft, Weltraum, usw. –, ebenfalls mit einer ‚Steuer‘ belegt werden, die der Allgemeinheit zu Gute kommt“ (S. 35). Gerechtes Teilen und Regenerieren begrenzter Naturgüter erfordern sozial-ökologische Kriterien, nach denen Bewirtschaftungsrechte erlangt und eingehende Pachterträge bzw. Nutzungsentgelte verteilt werden.
3) Ökonomische Diversität statt zentralstaatlicher Monokultur: Die treuhänderische Verwaltung der Biosphäre muss Institutionen überantwortet werden, die „im demokratischen Diskurs“ (S. 46) stehen und der Generationengerechtigkeit verpflichtet sind. Mitnichten kommt hierfür nur der Staat in Frage. Je nach örtlichen Gegebenheiten, sachlichen Erfordernissen und subsidiären Möglichkeiten kann und soll diese Aufgabe erfüllt werden von „[…] Kommunen, Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften sowie anderen gemeinnützigen Körperschaften“ (S. 34). Bunt, divers und weltweit präsent ist auch das Panorama von selbstorganisierten Projekten und Gemeinschaften, in denen engagierte Menschen schon heute ein kooperativ-geschwisterliches Wirtschaften praktisch einüben. „Nachhaltigkeit ist in all diesen Initiativen ein Standardgebot […], z.B. in Form von Leihgemeinschaften, Tauschkreisen, Spendenwerken, Small-is-beautiful-Bewegungen, genossenschaftlichen Gemeinschaftsbanken für Leihen und Schenken, Regionalgeld-Initiativen, usw.“ (S. 33 u. 37). Viele sind von freiwirtschaftlichen Ideen inspiriert, andere wirken auf ihre Art strukturkreativ. Allen gemeinsam ist ihre Pionierarbeit für größere Transformationen. „Sie sind Keimzellen, die Veränderungsdruck auf das herrschende Wirtschaftssystem ausüben“ (S. 33).
Wenn wir die Realität wirklich annehmen, wenn wir die Vernetztheit ihrer Problemlagen, die Zeitverzögerungen unseres bisherigen Handelns, die systemischen Rückkopplungen und Kippelemente ernsthaft in Betracht ziehen – dann werden wir auch erkennen, welche zivilisatorischen Möglichkeiten uns der Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter eröffnet.
Hartmut Graßl (geb. 1940) verdeutlicht das für die Energiewende. Ein Umstieg auf 100% erneuerbare Energieträger setzt den Aufbau einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft für die dazu notwendigen nichterneuerbaren Metalle voraus. Solche Kreislaufwirtschaften aber könnten viele Weltgegenden im Energiebereich autark machen und dadurch einen wesentlichen Anlass militärischer Konflikte aus der Welt schaffen. Die Entlastung der Atmosphäre von CO2 – wozu auch die Kohlenstoffspeicherung durch Aufforstung und Renaturierung von Feuchtgebieten gehört – ist also „[…] ein erstes größeres Beispiel für Weltinnenpolitik mit einer potenziellen Friedensdividende“ (vgl. den Aufsatz von Hartmut Graßl, S. 21-31; hier: S. 29).
Es gibt begründete Hoffnung, dass wir die Welt retten können. Allerdings wird das nur gelingen, wenn wir die Komfortzone verlassen, über uns hinauswachsen und selbst aktiv werden. Der Tagungsband Nachhaltigkeit atmet diese Aufbruchsstimmung. Er ist ein wichtiges Buch, dem weite Verbreitung zu wünschen ist.