En(t)dzauberung – Herbst des Religionszeitalters
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Zusätzliche Informationen
Bestellnr | 20999 |
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Autor | Friedhelm Schenitz (Max Kruse) |
Ausführung | 421 S., kart. |
ISBN | 978-3-933037-65-7 |
Erschienen | 2007 |
Verlag | Angelika Lenz Verlag |
Inhalt:
Im Jahr 2251 – wie wird es dann wohl auf der Erde aussehen? Der bekannte Kinderbuchautor Max Kruse („Urmel“, „Der Löwe ist los“) hat sich hier unter dem Pseudonym Friedhelm Schenitz darüber Gedanken gemacht und eine Zukunftsvision entwickelt. Stellen Sie sich vor, es gäbe keine Kirchen mehr, keinen Jenseitsglauben. Wäre die Welt dann unmoralischer? Nein – sie wäre besser, ohne die Dogmen und Machtkämpfe der Religionen! Nur eine Utopie? Vielleicht. Aber auch ein Ziel. In fiktiven Briefen aus der Zukunft entwickelt sich eine kritische Bestandsaufnahme der monotheistischen Religionen, hauptsächlich des Christentums – ein Spiegelbild auch unserer Tage. Mit der Vorstellung, wir würden im Jahre 2251, also in rund 250 Jahren, auf unsere heutige Zeit zurückblicken, schafft der Autor eine wohltuende Distanz. Aus der Position des unbeteiligten Beobachters findet der Leser Antworten auf viele der uns heute bedrängenden Fragen. Ein Buch, das hilft, den eigenen Standpunkt zu klären. Am 1. Juni 2008 in überarbeiteter Neuauflage in zwei Bänden erschienen: Max Kruse: „Antworten aus der Zukunft“ – Best.-Nr. 21005 Max Kruse: „Gott oder Nichtgott – das ist hier die Frage“ – Best.-Nr. 21006
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REZENSION:
Verzauberte En(t)dzauberung
Es war einmal; nein, falsch, er ist ein bekannter Schriftsteller. Er machte sich Gedanken um Religionen und religiöse Menschen und schrieb sie nieder. Seine Gedanken waren so radikal und kritisch, dass er es vorzog, sie unter einem Pseudonym zu veröffentlichen.
Um das zum Teil Schockierende seiner Worte etwas zu mildern, wählt Friedhelm Schenitz – so der Pseudonym des Autors – als literarische „Einkleidung“ die Briefform. Es handelt sich dabei um Briefe des auf Madeira lebenden Professors Kasimir Nepomuk, die er an die Chinesin Yü-Ling schrieb, und zwar anno 251 neuer Zeitrechnung. Diese entspricht dem Jahr 2251 u. Z., so dass in dem Buch eine Projektion von Gegenwart und Vergangenheit aus der Zukunft vorgenommen wird. Und nicht nur das, Schenitz teilt dem Leser auch seine Prognosen für die Historie der Menschheit mit, die er in den kommenden rund 250 Jahren erwartet. Diese sinnreiche Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft machen das umfangreiche Buch zu einer interessanten, das Denken anregenden Lektüre.
Der eigenartige Titel „En(t)dzauberung“ bedarf der Erläuterung, und die bleibt Schenitz dem Leser nicht schuldig. Die Schreibweise enthält eine Doppeldeutung: das Wegwischen des über der Religion liegenden Zaubers, die Lösung vom Glauben, und das damit verbundene Beenden des „Verzauberns“ der Religionsstifter und –vertreter. Schenitz sieht sogar eine große Bewegung, die die Menschen aus ihren religiösen Vorstellungswelten befreit. Sie hat ihnen geholfen, durch die En(t)dzauberung „ein nüchternes Bild unseres Daseins“ (S.184) zu gewinnen.
Friedhelm Schenitz widmet sich in den 12 Kapiteln seines Buches fast allen Fragen und Problemen, die mit Religionen und ihren Wirkungen zusammen hängen; er schreibt über das Phänomen des Glaubens, die Bibel, über Jesus, das Christentum und die Kirchen, über Leben und Tod, Wahrheit und Sinn und über Gottesbeweise, die keine sind.
Grundlegender Tenor der Darlegungen von Schenitz ist eine vernichtende Kritik der Religionen, der Religionsvertreter und deren Institutionen. Sie findet sich durchgängig im gesamten Buch und besticht durch sorgfältig zusammengetragenes Datenmaterial, den häufigen Bezug auf historische Ereignisse und Personen mit ihren Äußerungen zum Thema aus vielen Jahrhunderten und durch ihre eingängige logische Argumentation. Dabei geht es dem Autor nicht um bloßes Theoretisieren, sondern er sieht mannigfaltige Bezüge zum praktischen Leben, zum Denken und Handeln der Menschen. Schenitz hält Religion für unvernünftig (S. 41), ja schädlich. Er führt Belege für die Grausamkeit des christlichen Gottes an (S. 80 f.) und leitet daraus z. B. die Nichteignung von Religion für die Erziehung von Kindern ab, und das nicht nur wegen der Missachtung der Menschen, sondern auch der Tiere als Opfer. Dabei beschränkt er sich jedoch nicht auf das Christentum, sondern bezieht andere Religionen und ihre Hassprediger in seine Betrachtungen ein. Er kritisiert auch die Menschen, welche die gepredigten Glaubensdoktrine annehmen: „Der Mensch ist – so gesehen – ein irrationales Wesen, ein Wahnwesen, kein homo sapiens, sondern ein homo captus. (S. 58) Damit zusammenhängend würde ich den gläubigen Menschen eher als homo irrationalicus – den Unvernünftigen – bezeichnen, denn „captus“ kommt vom lateinischen „captere“, zu deutsch jagen, streben nach etwas, lauern auf etwas und ergibt hier kaum einen Sinn.
Friedhelm Schenitz würde seine bestechende Logik und Gründlichkeit verlassen, beschränkte er sich lediglich auf die Kritik des Gesamtphänomens Religion und Religiosität. Er zeigt vielmehr in seiner Projektion auf, wie und wodurch sich das Denken der Menschen verändert hat, verändern musste, um von der Religion loszukommen. Dabei misst er der Fortführung der Aufklärung entscheidende Bedeutung zu. Desgleichen kennzeichnet er die hervorragende Rolle der Vernunft, ohne die es seiner Ansicht zufolge keine Veränderung des Denkens und der Moral geben kann. Er weist darauf hin, dass die Veränderungen im Denken parallel mit solchen im Bereich des Sozialen einhergehen: „Der Weg zu einer der Wahrheit verpflichtenden, illusionsfreien Lebensauffassung führte also über die Verbesserung der sozialen und hygienischen Verhältnisse – überall auf der Welt. Diese herzustellen war und ist wesentlich wichtiger als beten.“ (S. 251) Und Schenitz schreibt damit zusammenhängend von „zehn Geboten der Zukunft“, die an die Stelle religiöser Gebote treten, z. B. „Du sollst nichts glauben, was nicht bewiesen werden kann.“ oder „Du sollst diese Erde lieben wie dich selbst!“ In jedem Detail offenbart er seine klaren atheistische Positionen. Allerdings halte ich seine Antworten auf die Frage: Was sind Atheisten? (S. 42) für recht kurzsichtig und z. T. unzutreffend.
In mehreren Kapiteln unternimmt Friedhelm Schenitz Ausflüge in die Geschichte des Christentums. Dabei verrät der Autor umfassende und detaillierte Bibelkenntnisse, und der Leser merkt, dass Schenitz weiß, wovon und worüber er kritisch schreibt. So geht er u. a. der Frage nach, ob Jesus wirklich gelebt hat, und unterscheidet zwischen biblischem und historischem Jesus. Er spürt Lücken in dessen Biografie auf, desgleichen Widersprüchliches und Grausames in seinen angeblichen Äußerungen. Seine Fragen an Jesus sind zielend und bohrend, nach Wahrheiten suchend.
Schenitz lässt in seinen Gedanken zwar das Christentum dominieren, beschränkt sich jedoch nicht darauf. Auch der Islam, insbesondere der Islamismus, wird einer kritischen Betrachtung unterzogen; die grundlegenden Religionsdokumente Bibel und Koran werden in einer Reihe von Inhalten miteinander verglichen. Allerdings wirkt der Islam unter dem Kapitel „Die Kirchen“ deplaziert; ein eigenes Kapitel „Der Islam“ hätte sich angeboten.
Positiv fällt auf, dass Schenitz bei aller Härte seiner Kritik positive Seiten von Religion und Kirche nicht übergeht und verschweigt. Er schreibt von „grenzenloser Güte“, die es gab und noch gibt. Er würdigt die in Klöstern tätigen Mönche und Nonnen: „Sie bewahrten das schriftliche Erbe der Antike, … legten Sümpfe trocken, vermittelten der Jugend Bildung und … pflegten Kranke, halfen Bedürftigen.“ (S. 241) Und er resümiert: „Ja, es gab eine europäisch-christliche Kultur, sie ist reich, oft wunderbar… (S. 242) Die Religionen haben Kulturen hervorgebracht und die Menschen geprägt.“ (S. 245) Aber er schränkt auch ein: „…aber es ist nicht so, dass es ohne Christentum keine europäische Kultur gegeben hätte.“ (S. 242)
Etwas merkwürdig, auch erschreckend nimmt sich das Szenario aus, auf dessen Grundlage Friedhelm Schenitz das Umdenken der Menschen und ihre Abkehr von Religion stellt. Aber angesichts gegenwärtiger Auseinandersetzungen um und wegen Religionen scheinen seine Gedanken wiederum nicht gar so abwegig. Zunächst ist die Rede von einem Weltparlament, auf dessen Beschluss der Übergang von der christlichen zur kosmischen Jahreszählung erfolgte (S. 9 f.). Es regiert, seit nach der enormen Zunahme des religiösen Fundamentalismus anno 155 kosmischer Zeitrechnung ( 2155 u. Z.) ein Glaubenskrieg ausbrach, der sieben Jahre dauerte und in dem Neutronenbomben eingesetzt wurden. Dieser Krieg veränderte die Erde nachhaltig, so wie wir sie schon aus gegenwärtigen Szenarios her kennen, und dezimierte die Weltbevölkerung um zwei Drittel. Schenitz folgert gnadenlos: „Dabei verkleinerte sich natürlich auch der Anteil der Christgläubigen, und die Überlebenden wandten sich bis auf wenige Ausnahmen von dieser Kirche ab. Der Rest Menschen gründete 195 die „Globalunion“, in der für religiösen Fanatismus kein Platz mehr war.
Friedhelm Schenitz zeigt in seinem Buch, dass er keinerlei Auseinandersetzungen scheut und auch bereit ist, „heiße Eisen“ anzufassen. Daher nimmt es nicht Wunder, dass er den Gottesbeweisen ein gesondertes Kapitel widmet. Allerdings handelt es sich bei dem Aufgeschriebenen mitunter weder um einen Beweis oder einen „Nichtbeweis“. Ich halte dieses Kapitel vielmehr für eine Sammlung kluger, ausgewogener Gedanken über (einen) Gott, die Menschen und die Welt. Manche erscheinen in Gedicht-, andere in Frageform oder als Aphorismus. Es sind bohrende Fragen, die Schenitz stellt, und seine Antworten sind voller zwingender Logik. Allerdings muss man so manches mehrmals lesen, ehe sich Logik und „Hintersinn“ völlig erschließen.
Das letzte Kapitel überschreibt Schenitz mit „Wahrheit und Sinn“. In diesen beiden Worten erschöpft sich jedoch nicht der Gehalt des Geschriebenen. Es handelt sich eigentlich um eine Gedankensammlung zu Sein und Sinn, Erkennen und Erkenntnis, Glauben, Nichtglauben, Ignoranz und Wissen, über Evolution und Ziel, Zukunft, Anthropisches Prinzip. Schenitz hat seine Gedanken abwechslungsreich strukturiert, als Aphorismen, in Satzform, auch gedichtartig, so dass einzelne seiner Gedanken besonders transparent werden.
Sich einem solch brisanten Thema zu widmen, wie es Friedhelm Schenitz getan hat, bringt natürlich auch Gefahren mit sich: Überzogenes, Fehlerhaftes, Vorurteile, alles ist möglich. So halte ich die Feststellung, „dass jeder Glaube an ein höheres Wesen, das uns liebt, pathologisch ist“ (S. 65), für eine Übersteigerung. Die auf Seite 69 angedeutete Beziehung zwischen Religion und Weltanschauung zweifle ich an. Auf Seite 245 hält Schenitz „die Frage nach dem Lebenssinn für nutzlos“, kennzeichnet aber 10 Seiten weiter sehr wohl einen solchen Sinn und zeigt dem Leser im Kapitel „Wahrheit und Sinn“ sehr eindrücklich die unterschiedliche Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens. Seine Feststellungen „Die Natur ist perfekt organisiert“ (S. 309) und „In der Natur ist alles zweckmäßig“ (S. 372) sind schlichtweg falsch, und es wäre schön, würden sich – wie behauptet – Ratio und Anmaßung ausschließen (S. 311). Leider sind im wirklichen Leben Ratio und Anmaßung viel zu oft gepaart, und daraus resultiert so vieles, was Schenitz zu Recht kritisiert. Ich rate daher zur Vorsicht beim Umgang mit manchen Verallgemeinerungen, z. B. auch mit der, „dass der Atheist sein Leben nicht auf Illusionen baut“ (S. 392).
Schenitz konstatiert das Fehlen von zur Religion im Gegensatz stehenden Dokumenten. Seine Forderung nach einem „atheistischen Manifest“ und seine Klage über das Fehlen einer „atheistischen Bibel“ sind aus dieser Sicht zu verstehen.
Wer all das in diesem Buch Geschriebene noch genauer ergründen will und die Akribie sowie die Mannigfaltigkeit der Details liebt, der greife noch zu der von Arnher E. Lenz hervorragend besorgten Übersetzung von Earl Doherty: „Das Jesus-Puzzle. Basiert das Christentum auf einer Legende?“, die 2003 ebenfalls im Angelika Lenz Verlag erschienen ist. Beide Bücher ergänzen sich in weiten Teilen in bemerkenswerter Weise.
Jan Bretschneider
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REZENSION:
Abschied von einem Mythos
Beruht die moderne europäische Kultur auf einem christlichen Fundament?
Wir schreiben das Jahr 2251. Auf der idyllischen Insel Madeira genießt Professor Kasimir Nepomuk seinen Lebensabend, als ihn eines Tages ein Brief aus Fernost erreicht. Absender ist Yü-Ling, eine junge Frau aus China, die von dem bekannten Gelehrten vor allem eines erfahren möchte: Welche Rolle spielte die Religion, spielte das Christentum in der Geschichte Europas? Denn darüber möchte Yü-Ling ihre Magisterarbeit schreiben. Und Professor Nepomuk, der sich durchaus geschmeichelt fühlt, gibt bereitwillig Auskunft. Auskunft über das Phänomen des Glaubens an sich, über das Alte und Neue Testament, über Jesus und die Kirche, über Heilsversprechungen und Gottesbeweise.
Diese Geschichte, die zugleich den Rahmen seines religionskritischen Buches »En(t)dzauberung« bildet, stammt aus der Feder des Publizisten Friedhelm Schenitz. Zugegeben, der Titel klingt nicht sonderlich spannend. Was den Leser jedoch erwartet, ist eine ebenso scharfe wie scharfsinnige Kritik des Christentums und seiner Institutionen. Bisweilen fällt diese Kritik derart schonungslos aus, dass der Autor vorsichtshalber darauf verzichtet hat, seine wahre Identität preiszugeben. Nur so viel war von seinem Verleger zu erfahren, dass sich hinter dem Pseudonym Friedhelm Schenitz ein renommierter bundesdeutscher Schriftsteller verbirgt.
Leider fehlt hier der Platz, um die vielen Fragen und Probleme, die der Autor in seinem brillant geschriebenen Buch behandelt, auch nur ansatzweise darzustellen. Eine Frage allerdings kehrt nahezu in jedem Kapitel wieder, die Frage nämlich, ob die humanistischen Werte unserer Kultur, die gern auch als christliche Werte gedeutet werden, tatsächlich christliche Werte sind. Zur Diskussion steht dabei auch die Behauptung einiger Theologen und Historiker, dass es ohne Christentum niemals eine moderne europäische Kultur gegeben hätte. Dem nun widerspricht Schenitz ganz entschieden: All die Werte und Normen, die wir in den westlichen Gesellschaften heute schätzen und verteidigen, mussten gegen den Widerstand der Kirche mühsam errungen werden. Es waren nicht die Kirchenväter, sondern die englischen und französischen Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts, die für Glaubens- und Meinungsfreiheit stritten, und die das Wort »Menschenrechte« überhaupt erst in den europäischen Sprachschatz einführten. Im Grunde ist nicht einmal die Nächstenliebe eine christliche Erfindung. Bereits die griechischen Stoiker pflegten diese Tugend, während der Römer Cicero den Begriff der »Humanität« prägte.
Kurzum, die Grundregeln des friedvollen menschlichen Zusammenlebens wurden lange vor dem Aufkommen des Christentum entwickelt und tradiert. Oder mag jemand ernsthaft behaupten, dass im antiken Griechenland und Rom mehr Gewalt und Angst herrschten als in Europa zu Zeiten der christlichen Inquisition und Hexenverfolgung? Mit spitzer Feder zieht Schenitz Bilanz: Griechenland habe uns viel mehr gegeben als Judäa, »von dem wir nur einen Rachegott bekamen und einen Prediger, der zwar Liebe forderte, selber aber mit nie endenden Höllenqualen drohte«. Nun kennt gewiss auch das Christentum beeindruckende humane Vorschriften. Allerdings blieben diese in der Geschichte oft graue Theorie oder wurden nicht selten in ihr Gegenteil verkehrt. So ist von Gleichberechtigung der Frau in der Kirche noch immer wenig zu spüren. Bis heute geißeln katholische Würdenträger die lustvolle Sexualität und weigern sich, in Lateinamerika die Befreiungstheologie zu unterstützen. Gemessen an seinen eigenen Ansprüchen, so Schenitz, sei das Christentum in der Geschichte kläglich gescheitert.
Manche Religionskritiker machen für dieses Scheitern ein falsches Verständnis der »reinen Lehre« Jesu verantwortlich und erwecken damit den Eindruck, als sei ein richtig verstandenes Christentum per se etwas Gutes. Doch wie versteht man die christliche Lehre »richtig«? Nach theologischer Lehrmeinung lautet das höchste Gebot Jesu: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Das klingt ohne Zweifel nach viel Menschlichkeit – und hat dennoch einen Haken. Denn wie soll ein Mensch sich selbst lieben, wenn man ihm zugleich einredet, dass sein Körper durch die Erbsünde verdorben und minderwertig sei. »Weißt du nicht, dass du ein Eimer für Abfälle bist!« Dies verkündete kein Geringerer als der Opus-Dei-Gründer Josemaria Escrivá, den Papst Johannes Paul II. 2002 heilig sprach. 150 Jahre nach Charles Darwin hält die katholische Kirche noch immer an der Lehre von der Erbsünde fest. Im Gegensatz übrigens zu vielen ihrer Schäfchen, die längst begriffen haben, dass man auf dieser Basis kein erfülltes Leben führen kann. Überhaupt bleibt festzustellen, dass nicht die christliche Ethik, sondern die Ethik der Aufklärung für die meisten Menschen in unserer Gesellschaft handlungsleitend ist.
Diese Entwicklung wird allerdings konterkariert durch den neuerlichen Aufschwung des christlichen Fundamentalismus, dessen Anhänger – wie etwa US-Präsident George W. Bush – in allen Lebenslagen auf den Wortlaut der Bibel vertrauen. Tatsächlich glauben in den USA derzeit über 70 Prozent aller Erwachsenen, dass die Welt genauso entstanden sei, wie im ersten Buch Mose beschrieben. Und in Deutschland? Nach einer Emnid-Umfrage sind fast 50 Prozent der Bundesbürger der Überzeugung, dass eine göttliche Macht das Leben auf der Erde erschaffen habe. Und immerhin 32 Prozent bestreiten, dass Affe und Mensch von gemeinsamen Vorfahren abstammen.
Jeder darf glauben, was er will, betont Schenitz. Aber keinem soll gestattet sein, den eigenen Glauben anderen aufzuzwingen. Genau das jedoch tun alle religiösen Eiferer. Und evangelikale Christen werben mittlerweile sogar in Deutschland dafür, die biblische Schöpfungslehre in den Biologieunterricht einzuführen – als Korrektiv zur Evolutionstheorie Darwins. Es trifft zwar zu, dass die großen Kirchen sich von solcherart Bestrebungen distanzieren. Dennoch ließ der Wiener Kardinal Christoph Schönborn unlängst in der »New York Times« verlauten, jedes Denksystem, das die Existenz eines »intelligenten Plans« der Schöpfung ausschließe, sei nicht Wissenschaft, sondern Ideologie.
Bei aller Schärfe seiner Religionskritik leugnet Schenitz natürlich nicht, dass die abendländische Kultur auch christliche Wurzeln hat. So wäre ohne die christliche Architektur, Malerei und Musik das moderne Europa kaum vorstellbar oder trüge zumindest ein anderes Gesicht. Und dass die Aufklärung in einem christlichen Zeitalter das Licht der Welt erblickte, ist ebenfalls nicht zu bestreiten. Lobende und kritische Worte findet Schenitz zuletzt für die Bibel: »Ja, die Bibel ist ein großartiges Buch, aber doch auch eine Mischung aus Hochmut und Wunschdenken, aus archaischer Grausamkeit und Machtgelüsten.« Gleichwohl sollte jeder das »Buch der Bücher« lesen. Zwar erfährt man darin wenig über Gott – aber viel über den Menschen.
Martin Koch (Neues Deutschland, 02.06.07)
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