Kopflos – Das Tagebuch der Trud von 1844

24,90 

Zusätzliche Informationen

Bestellnr

21166

Autor

Liane Lüthy

Ausführung

360 S., kart.

ISBN

978-3-943624-83-0

Erschienen

07.06.2023

Verlag

Angelika Lenz Verlag

Inhalt:

Hin- und hergerissen zwischen den Zwängen der üblichen Frauenrolle und dem Aufbegehren dagegen, zwischen Glauben und Zweifel, zwischen Halluzinationen und Wissensdurst, Schuldgefühlen und Liebe, sind der jungen Trud auch fromme Lügen recht, um bei aller Angst vor der eigenen Courage allein aufzubrechen – oder zu fliehen?
Das Journal einer Reise nach innen und außen.

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REZENSION in Wege ohne Dogma 9/2023:

Ein willkommener Vorwand für eine Reise: Die Ausstellung des Heiligen Rocks in Trier 1844

Gertrud Pfister, genannt Trud, wächst als Halbwaise beim Vater und dann bei einem gelehrten Onkel am Zürichsee auf. Dieser weckt in ihr die Liebe zur Natur ebenso wie zur schönen Literatur und unterweist sie in der Stenographie. Ihren kindlichen Glauben duldet er ohne Spott. Schon früh prallen bei ihr aber die aufklärerischen Gedanken des Pädagogen und ihre tiefe abergläubisch-katholische Volksfrömmigkeit unvereinbar und schmerzhaft aufeinander. Ein unwiderstehlicher Drang, zu neuen Ufern aufzubrechen, entwickelt sich zugleich mit wachsendem Wissensdurst.

Als Dreizehnjährige kommt sie als Mündel auf den Eisernen Hof in Süddeutschland und damit in die Obhut des Hauptmanns Scholl. Wieder geraten die freisinnigen Überzeugungen des Gutsherrn mit ihrem religiösen Glauben in Konflikt. Aber auch im Denken des wissenschaftsgläubigen Scholl finden sich irrationale Elemente, so wie sich in den christlichen Glauben des Priesters Johannes, einem Zögling aus dem Seminar des Konstanzer Bistumsverwesers Ignaz v. Wessenberg, rationalistische Züge mischen. Die beiden Kontrahenten schätzen indessen die anregenden Gespräche und offenherzigen Diskussionen miteinander. Bei Trud, die zuweilen mithört, lösen sie noch mehr Verwirrung und Zweifel aus. Und immer wieder begegnet ihr der schaurige Reiter ohne Kopf (zu diesem Leitmotiv gestaltete der Karlsruher Maler Jürgen Wiesner das Titelbild).

Eine Beziehung Truds mit dem Jäger Klaus endet im Rausch – und möglicherweise in einer Katastrophe. Es drängt sie, den Hof zu verlassen und in die weite Welt zu reisen, was zu ihrer Zeit für eine alleinstehende junge Frau nicht nur unschicklich, sondern fast unmöglich ist. Da bietet die Ausstellung des Heiligen Rocks in Trier im Sommer 1844 einen willkommenen Vorwand.

Mit ihrer Abreise am 11. August 1844 setzt nun das Tagebuch als Ich-Erzählung ein. Trud schildert launig Reisebekanntschaften und Gespräche im Postwagen und gewinnt zunehmend an Selbstsicherheit. Trotzdem schwankt ihre seelische Verfassung immer wieder zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifel, Heimweh und Fernweh. Das Leben und Treiben unterwegs, allein und in der Pilgergruppe, dann in Trier und endlich die Anbetung der Reliquie hält Trud ausführlich und detailliert in ihrem Journal fest.

Zwei Begegnungen erweisen sich im Verlauf der „kopflosen“ Reise als schicksalhaft. Da ist einmal der junge Jude Joshua Eller, zu dem sie auf den ersten Blick eine starke Zuneigung fasst. Er plant, nach Amerika auszuwandern. Als sie sich trennen, ist Trud entschlossen, ihm in die neue Welt zu folgen, sobald ihre Wallfahrt nach Trier beendet ist. Noch auf dem Weg dahin begegnet ihr in St. Goar die ebenfalls nach Trier pilgernde Sängerin und Schauspielerin Agathe Küppers, die ihr verblüffend ähnlich sieht. Agathe ist unglücklich, weil ihr Verlobter, mit dem sie auswandern wollte, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden ist. Sie verfügt nicht nur über einen Reisepass, sondern auch bereits über eine Schiffspassage von Hamburg nach New York. In einer alkoholisierten Stimmung tauschen die beiden Frauen ihre Pässe und ihre Rollen …

Die historischen Hintergründe dieses prä-emanzipatorischen Frauenromans sind hervorragend recherchiert, die Begleitumstände bis in die kleinsten Details hinein stimmig und anschaulich dargestellt. Hier ist eine Zeit im Umbruch, im Gasthaus wird von Freiheit geredet, die Eisenbahnarbeiter gelten als politische Wühler, Intellektuelle wittern Morgenluft … Trud nimmt das alles eher unbedarft und am Rande wahr, aber die Aufbruchstimmung findet ein Echo in ihren Aufzeichnungen. Die Sprache der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mutet heute antiquiert an, doch man liest sich ein und findet in diesem Buch mannigfaltige sprachliche Kleinodien, die unseren nüchtern-modernen Sprachschatz aufs Erfreulichste bereichern.

Pia Oberacker-Pilick

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